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Ausgabe 1

Begreifen, was uns ergreift

Es gibt Menschen, die sind Fan von Ronaldo oder von den Rolling Stones. Und es gibt Menschen wie mich: Fans von Literatur. Wer sind wir? Und was unterscheidet uns Literaturfans von anderen Fans? Ein Selbstbericht.

Grafiken: Kim Becker

Denk mal an Fans. Was siehst du? Wahrscheinlich eine Fankurve im Stadion, kreischende Fans auf einem Festival oder Autogrammjägerinnen am roten Teppich. Literaturfans mögen sich in mancherlei Hinsicht von diesen Fans unterscheiden. Eines haben wir aber gemeinsam: Wir wollen alles über die eigenen Idole wissen. Wie sind die Autorinnen zum Schreiben gekommen? Wie sah ihr Arbeitsalltag aus? Anders als bei anderen Fans ist allerdings, dass das Leben von Schriftstellerinnen meist nicht spannend ist. Dazu kommt, dass das Leben von Autorinnen, die 1817 gestorben sind – zumindest aus Sicht von uns Fans – unzureichend dokumentiert ist.

Fan von Gedanken sein
Es ist nicht so, als würden wir nichts über Schriftsteller*innen und ihre Eigenheiten wissen. Hans Fallada hat sein Leben lang Meldungen aus der Zeitung ausgeschnitten, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Geschichte zu machen. Aus einem solchen Zeitungsschnipsel soll sein Roman Jeder stirbt für sich allein entstanden sein. Richard Ford berichtet, dass er seine frisch verfassten Manuskripte in den Kühlschrank legt. Damit sie in Sicherheit sind, wenn das Haus abbrennen sollte. Über John Steinbeck wird erzählt, dass er alle seine Manuskripte mit Bleistift in dicke Notizbücher schrieb. Sobald eine Seite vollgeschrieben war, soll er sie aus dem Buch getrennt und mit Haarspray eingesprüht haben, um den Bleistift zu fixieren.

Abgesehen von solchen Eigenarten ist das Leben vieler Schriftstellerinnen unspektakulär – sie gehen wenn dann auf Lesereise oder treten mal beim Bachmannpreis an. Das, was sie jedoch die meiste Zeit tun, ist an ihrem Schreibtisch zu sitzen und nachzudenken. Dadurch, dass Schriftstellerinnen oft gegenüber ihrem Werk im Hintergrund bleiben, kann man Fan des Werks einer Person sein, ohne Fan der Person selbst zu sein. Das ist man als Literaturfan häufiger als zum Beispiel als Fan von Musikerinnen. Genauso kann man Fan von Protagonist-innen sein. Ich kann nicht sagen, wie oft ich Büchern wegen der Hauptfiguren schon nachgetrauert habe. Oft lese ich Bücher wieder und wieder, nur um den Personen darin nochmal zu begegnen.
Dass wir oft nicht viel über das Leben von Autorinnen wissen, ist weniger störend, als man vielleicht denken würde. Denn das, was an Schriftstellerinnen spannend ist, ist nicht ihr Lebensstil oder ihre Person, sondern ihre Gedankenwelt. Und diese ist zugänglich – indem man liest.

Oft lese ich Bücher wieder und wieder, nur um den Personen darin nochmal zu begegnen.

Zwischen die Seiten fliehen
Die Gedankenwelt der Schriftsteller*innen ist der Heimathafen, in den man sich flüchten kann, wenn der eigene Alltag unspektakulär oder überwältigend ist. Genauso wichtig wie die Inhalte ist der Stil: Formulierungen, Satzbau und Wortwahl kann ich irgendwann nachahmen, weil ich so vertraut mit ihnen bin. Schon Kafka schreibt, dass Lesen eine Flucht aus der Wirklichkeit sein kann. Literatur bietet Einblick in eine andere Realität, oft sogar in andere Welten. Während man sich in die Texte vertieft, vergisst man die eigene Umwelt und die eigenen Sorgen. Jedes Jahr habe ich in den Sommerferien ganze Tage in Romanen verbracht. Ich bin nur im Abstand von Stunden aus den Geschichten in die Realität zurückgekehrt, immer ein bisschen verwirrt und mitgenommen von dem schnellen Wechsel zwischen den Welten.

Der Einfluss von Literatur
Für mich ist Literatur aber nicht nur eine Flucht. Werke der Autorinnen können auch mit der Wirklichkeit konfrontieren. Sehr oft sind die Texte ein Abbild der Gesellschaft, in der die Autorinnen leben. Indem sie schreiben, weisen Schriftstellerinnen mal subtiler, mal weniger subtil, auf Missstände hin. Dadurch besitzt Literatur politische Macht. „Ich glaube, dass Literatur – ein Roman, eine Erzählung, sogar eine Zeile aus einem Gedicht – die Macht hat, Reiche zu zerstören“, schreibt die britische Autorin Doris Lessing in ihrer Autobiografie Schritte im Schatten. Das NS-Regime verbrannte Bücher. Und bis heute werden Schriftstellerinnen weltweit politisch verfolgt. Der Autorinnenvereinigung PEN zufolge wurden allein im Jahr 2022 acht Schriftstellerinnen getötet und 51 waren inhaftiert. Das zeigt, wie sehr Diktaturen und Unrechtsregime den Einfluss von Literatur fürchten.

Sich selbst wiederfinden
Aus politischen Gründen kann man Fan von Literatinnen sein, aber meistens bin ich aus sehr persönlichen Gründen Fan. Literatur kann mir für mein eigenes Leben Denkanstöße geben. Besonders, wenn ich mich selbst zwischen den Seiten der Bücher wiederfinde. Identifikation ist bei allen Fans sehr wichtig; insbesondere auf die Literatur bezogen. Das Gefühl zu haben, dass man versteht, was der*die Autorin in seinem*ihrem Werk sagen will, und sich gleichzeitig selbst verstanden zu fühlen, macht Identifikation in der Literatur aus. Vertieft wird die Bindung zu Werken, Protagonistinnen und Autorinnen dadurch, dass Geschichten, aber auch Gedichte oder Dramen, Emotionen entstehen lassen. „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“, wie Kafka schrieb. Aristoteles beschrieb das Konzept der Katharsis, also der inneren ‚Reinigung‘, dadurch, dass man Rührung und Schrecken während eines Theaterstücks erlebt. Beim Lesen von Literatur erfährt man vielleicht nicht direkt eine Reinigung, aber doch eine Reifung.

Als Fan kann ich berichten, dass die angehimmelten Schriftstellerinnen irgendwann wie gute Bekannte sind. An sie kann ich mich wenden, wenn ich eine Auszeit brauche, einen Rat oder eine andere Perspektive. Fan von diesen Bekannten zu sein, ist kein Spaziergang. Anders als andere Fans müssen wir uns allen möglichen Komplikationen stellen. Trotzdem ist ein Leben ohne Literatur für mich unvorstellbar. Die Teilhabe an den Gedanken der Generationen von Literatinnen im eigenen Bücherregal ist vielleicht nicht lebensnotwendig. Aber sie macht das Leben unendlich viel reicher.

Fun Fact: Der früheste Nachweis des Wortes „Bücherwurm“ zitieren die Brüder Grimm aus Lessings Drama Der junge Gelehrte von 1749. Tatsächlich gibt es einige Nagekäferarten, die liebend gerne an Büchern knabbern. Wie ihre menschlichen Vertreter*innen vernichten sie Zeile um Zeile, bis nichts mehr von einem Buch übrig ist.

Die Autorin:
Elly Winter
(sie/ihr) ist Fan von italienischen Filmen und Bücherregalen, die nach Farbe sortiert sind.

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