Eine sexistische Fantasie? Ist das ein hot Take? Oder wirklich ein Gewalttäter?
Nein, nein, das ist nur das „lyrische Ich“. Ein Glück, dann kann Ich ja beruhigt sein… Oder?
Fotomontage: Anton Dietzfelbinger
Auf gar keinen Fall. Das in Liedern so mächtige „lyrische Ich“, das so viel Einfluss auf seine Konsument*innen hat, ist ein bedenkliches Phänomen. Auch wenn Geschmäcker verschieden sind, kann ein Lied aus der Ich-Perspektive ziemlich viel mit uns machen.
Täuschend echt
So wie mit mir. Ich war Rammstein-Fan. Das Martialische, das Provokante, das Lyrische hat mich fasziniert. Womöglich etwas zu geblendet davon, die Rammstein-Texte immer und immer wieder auf eine vielleicht rechte Gesinnung zu untersuchen, ist mir die andere Problematik gar nicht aufgefallen.
Zwischen dem gerollten „R“ und der krachenden Musik fielen mir sogar teils progressivere Ansätze auf. Aber zweifelhafte Texte des lyrischen Ichs (my ass), wie „Bück dich! Befehl ich dir, wende dein Antlitz ab von mir!”, „Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr” oder „Komm her, du willst es doch auch, Sex!” tat ich als maßlose Übertreibung und provokative Fantasien ab. Im Vertrauen auf eine Distanz des Künstlers zu seiner Kunst.
Offenbar weit gefehlt. Einige dieser Texte sind aus der Ich-Perspektive geschrieben. Und damit schien auf einmal alles legitim zu sein. Dachte ich naiv, bis es Rammstein nicht deutlicher hätte klarmachen können, dass das lyrische Ich ein zweischneidiges Schwert ist.
Zum einen wird das textliche Hineinversetzen in bestimmte Charaktere leider oft als großartiger, künstlerischer Stunt angesehen, was es durchaus auch sein kann. Andererseits sollte die Distanz der Künstler*in zum Inhalt – vor allem bei solchen Texten – irgendwo klar werden, sonst: hochgradig schwierig. Gerade, wo das ach so beeindruckende lyrische Ich häufig mit dem Männer-Genie-Kult vermischt wird und Genialität da gesehen wird, wo gar keine ist.
Geistiges Stabhochspringen mit Bruchlandung
Spätestens das Beispiel von Rammstein hat klar gezeigt, dass nicht jeder Text die genialste aller geistigen Verrenkungen sein muss, sondern womöglich einfach eine perverse Altherrenfantasie ist. Für die der Dichter mUtMaßliCH einfach aufschreiben musste, was ihm so gefällt. Ich nenne keine Namen, ich habe Angst vor Kristian Sherz.
Aber hier wurde mein Kunstverständnis in den noch fragilen Grundfesten erschüttert. Was oft als maßlos überzogene Provokation abgetan wurde, ist einfach Hardcore-Sexismus. Der Anschein besteht; es gibt offenbar keine Metaebene und hier schlüpft auch niemand in irgendeine Rolle.
Margarete Stokowski kommentierte das lyrische Ich 2020 mit den Worten, dass die alleinige Existenz des „lyrischen Ichs“ es in keinster Weise adeln würde. Noch dazu sei das „lyrische Ich“ zufälligerweise meist sexistisch. Gar kein Zufall war es, dass es in ihrem Text auch schon um Rammsteins Frontmann ging.
Und wenn es heißt „Kunst muss vom Künstler getrennt werden“, funktioniert das eben nur, solange derdie Künstlerin selbst ihre „Kunst“ von sich zu trennen weiß.
FSK 18
So groß die Faszination vor dem gedanklichen Fremdgang in eine andere „Rolle“ auch manchmal ist. Das „lyrische Ich“ sollte in die „FSK-18-Abteilung” der Musikwerkzeuge. Es kann für viele Fans eine der einflussstärksten Methoden sein, um Inhalte zu transportieren. Gleichzeitig stellen sich damit Künstler*innen in eine große Verantwortung. Denn es mag zwar interessant sein, in einen fremden Kopf zu schauen, aber sind wir ehrlich: nicht jeder Blick ist es wirklich wert. Wenn ich Rammstein jetzt in seltenen Fällen irgendwo höre, fühlt sich das so an, wie dem toxischen Ex zu begegnen.
Der Autor:
Anton Dietzfelbinger (er/ihm) ist großer Kunst- und Musikfan, mit Begeisterung für Tief-, Blöd- und Feinsinn.
One reply on “Es. Ich. Lyrisches Ich.”
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