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Ausgabe 1

Jubeljahre – Vom Hüpferchen zur durchgeplanten Choreo

Als im Jahr 1860 der FC Sheffield gegen den FC Hallam zum ersten offiziellen Männer-Fußballspiel antrat, war die Welt noch eine andere. 164 Jahre später hat sich vieles geändert – auch der Jubel der Spieler. Eine kleine Zeitreise.

1954:
„Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt“ –und dann folgt ein vierfacher Torschrei von Radioreporter Herbert Zimmermann. Das Zitat aus dem WM-Finale 1954 gehört vermutlich zu den bekanntesten Sprüchen der deutschen Sportgeschichte. Anders sieht es mit dem Jubel aus: Obwohl Rahn sechs Minuten vor dem Schlusspfiff den Siegtreffer erzielte, bestand der Jubel nur aus einer vergleichsweise unspektakulären Spielertraube. Immerhin: Nach dem Abpfiff gab es auch ein paar Freudensprünge.

1974:
20 Jahre nach Helmut Rahns Treffer ist nicht nur das Fernsehen farbenfroh, auch der Jubel des WM-Siegtorschützen Gerd Müller ist deutlich euphorischer. Ein Sprint, drei Sprünge in die Luft und hochgerissene Arme: Das 2:1 gegen die Niederlande, das Müller übrigens kurz vor dem Ende der ersten Halbzeit erzielte, bedeutete den zweiten Weltmeistertitel für die deutsche Nationalmannschaft.

1990:
Nachdem Andreas Brehme den Elfmeter in die linke untere Ecke geschoben hatte, folgte noch schnell ein Jubelsprung, bevor er unter einer Traube von Spielern lag. Kurz vor Schluss führte Deutschland mit 1:0 gegen Argentinien, der dritte Weltmeistertitel stand kurz bevor. Und der Siegtorschütze? Der war unter den anderen Spielern fast gar nicht mehr zu sehen.

2010:
WM-Eröffnungsspiel in Südafrika, ein Pass in den Lauf des Südafrikaners Siphiwe Tshabalala, der den Ball annimmt und mit links in den rechten Winkel des mexikanischen Tores schießt. Was mindestens genauso stark in Erinnerung bleibt wie das Tor, ist der Torjubel: eine einstudierte Tanzeinlage, an der sich insgesamt fünf Spieler beteiligten. Es dürfte einer der Torjubel in einem WM-Eröffnungsspiel sein, der den Fans bis heute am stärksten in Erinnerung geblieben ist.

2014:
„Schürrle. Der kommt an. Mach ihn. Mach ihn. Er macht ihn!“ 60 Jahre nach Helmut Rahn und Herbert Zimmermann waren es Mario Götze als Torschütze und Tom Bartels als Kommentator, die dafür sorgten, dass das Tor zum 1:0 gegen Argentinien mehreren Millionen Fußballfans für immer in Erinnerung bleiben wird. Götzes Jubel, bei dem er nach der Spielertraube beide Arme zur Seite streckte und nach oben blickte, ging dabei schon fast unter – wird auf Social Media aber auch zehn Jahre nach dem Treffer noch unter den Posts von Götze gepostet.

2014, 2015, 2017:
Die Jubel werden extravaganter: Gleich mehrmals jubelte der Ex-Dortmunder Pierre-Emerick Aubameyang mit Masken, die er irgendwo in der Nähe des Spielfelds platziert hatte. Batman und Spiderman waren nur zwei Masken, die er den Fans präsentierte – und damit insbesondere während seiner Zeit bei Borussia Dortmund für Diskussionen sorgte.

2023:
Knierutscher, Wappenkuss, auf die Bande, Ohren zu, Wappen präsentieren, Buchstaben mit den Händen formen, Kugel formen, auf den eigenen Namen zeigen und am Ende nochmal den eigenen Mitspieler umarmen – Newcastles Bruno Guimaraes hatte nicht etwa zum entscheidenden Treffer im Champions League-Finale getroffen, sondern zum 4:1 gegen Brighton in der Premier League. Doch im Nachhinein stellte sich heraus: Der Multi-Jubel war nicht etwa seiner Selbstverliebtheit geschuldet. Guimaraes widmete den Jubel offenbar einem kranken Kind, das er kurz vor dem Spiel besucht hatte.

Dass sich der Männer-Fußball und die Jubel in den letzten Jahrzehnten verändert haben, ist nicht zu übersehen. Wo sich früher gemeinsam in der Mannschaft kurz abgeklatscht und umarmt wurde, werden heute Choreos vorgestellt. Aber warum ist das Ganze so? Sportwissenschaftler Andreas Tschorn vermutet in der Rheinischen Post (RP), dass die „größere mediale Aufmerksamkeit für den Sport damit zu tun haben könnte“. „Je mehr Fußball zum Geschäft und zur Show wurde, desto extravaganter wurde er [der Jubel] auch“, wird der Sportwissenschaftler weiter zitiert. Doch für Nostalgiker und Nostalgikerinnen gibt es laut dem Soziologen Uwe Wilkesmann Hoffnung: „Authentische Torjubel sind kein Relikt der Vergangenheit“, schreibt die RP diesbezüglich.
Aber ob Jubel jemals wieder so aussehen wie 1954? Vermutlich eher nicht. Und wer weiß, wie in 70 Jahren über die Jubel aus dem Jahr 2024 berichtet wird.

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